Zurück

In den Warenkorb

Empfehlung per E-Mail versenden

Probeexemplar anfordern

Gerne schicken wir Ihnen ein Probeexemplar an die angegeben Adresse.
Brauchbare Illegalität

Brauchbare Illegalität

Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen

vonKühl, Stefan
Deutsch, Erscheinungstermin 16.09.2020
lieferbar

Buch (broschiert)

22,00 €
(inkl. MwSt.)

eBook (EPUB mit digitalem Wasserzeichen)

19,99 €
(inkl. MwSt.)
Alle weichen mal von den Regeln ab. Das gehört zum Leben in Organisationen dazu. Der Grund: Organisationen brauchen Regeln, um berechenbar zu sein, für situative Anpassungen sind aber auch Regelbrüche nötig. Da diese überhaupt erst das Funktionieren von Organisationen aufrechterhalten, spricht man in der...

Informationen zum Titel

978-3-593-51301-0
Frankfurt
16.09.2020
2020
1
Buch (broschiert)
384 g
278
139 mm x 211 mm x 25 mm
Color of cover: Black, Color of cover: Red, Color of cover: Silver, Color of cover: White, Frankfurt
Deutsch
Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologie, Management: Führung und Motivation, Arbeitsmodelle und -praxis, Organisationstheorie und -verhalten, Soziologie: Arbeit und Beruf, Office Management, Strategisches Management
Inhalt Regelverletzungen in Organisationen ¿ Eine Einleitung 9 1 Funktionale Regelverstöße und brauchbare Illegalität ¿ Warum sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen 23 1.1 Die Personalisierung der Verantwortung 24 1.2 Gründe für Regelabweichungen 28 1.3 Zwischen formalen Konsistenzerwartungen und widersprüchlichen Umweltanforderungen 32 1.4 Grauzonen zwischen Regeleinhaltung und Regelverletzung 37 2 Verstöße gegen »Gesetze des Staates« und »Gesetze der Organisation« 43 2.1 Wie man Erwartungen fixieren kann ¿ Ähnlichkeiten und Unterschieden von Positivierung und Formalisierung 44 2.2 Die Zurechnung der Verantwortung für Gesetzesverstöße 51 2.3 Sensibilitäten und Toleranzen gegenüber Gesetzesverstößen 58 2.4 Fließende Übergänge zwischen Verstößen gegen Gesetze und Verstößen gegen die Formalstruktur 60 3 Die schwierige Unterscheidung zwischen brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität 65 3.1 Auf der Suche nach persönlichen Vorteilen ¿ Unterschlagung, Korruption, Arbeitsverweigerung 67 3.2 Illegale Lösungen für das Motivationsproblem 71 3.3 Der Charme informaler Entlohnungen in Organisationen 76 3.4 Die Grenzen informaler Belohnungssysteme 78 4 Zur Erosion formaler Normen ¿ Der Kontakt von Organisationen mit eingehegter Illegalität zu Organisationen mit entgrenzter Illegalität 83 4.1 Epidemische und eingedämmte Regelabweichung 85 4.2 Eine Frage der Loyalität ¿ Organisationsmitglieder in Rollenkonflikten 89 4.3 Kontaktflächen ¿ Kooperationen zwischen Organisationen mit eingehegter und entgrenzter Illegalität 97 4.4 Organisationen im Graubereich zwischen kontrollierter und unkontrollierter Regelabweichung 101 5 Entstehung, Durchsetzung und Regulierung von Regelabweichungen 105 5.1 Die Entstehung von regelmäßigen Regelabweichungen 109 5.2 Das Erlernen von Regelabweichungen 113 5.3 Die Herstellung von Kooperationsbeziehungen bei brauchbarer Illegalität 117 5.4 Zur Durchsetzung informaler Erwartungen 120 5.5 Öffnung und Schließung von Fenstern rationaler Kalkulationen 124 6 Regelbuch statt Regelbruch ¿ Reaktion auf das Bekanntwerden brauchbarer Illegalität 127 6.1 Auf der Suche nach der transparenten, durchformalisierten Organisation 129 6.2 Ungewollte Nebenfolgen einer Politik konsequenter Regelkonformität 134 6.3 Das geschicktere Verstecken von Regelabweichungen 141 6.4 Die Zerstörung des informalen Wissensmanagements 145 7 Die Moralisierung der Organisation ¿ Zur Produktion von Heuchelei 147 7.1 Zum Unterschied von Legalität und Moralität 150 7.2 Moral als Ausdruck der Achtung und Missachtung von Personen 155 7.3 Moralisch aufgeladene Kulturprogramme als Aufforderung zur Heuchelei 158 7.4 Die Akzeptanz der Funktionalität von Regelabweichungen 164 8 Zum Management von Regelkonformität und Regelabweichung ¿ Ein Fazit 167 8.1 Regelkonformität und Regelabweichung als Sprichwörter des Managements 169 8.2 Daumenregeln zum Umgang mit brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität 171 8.3 Die Thematisierbarkeit des Nichtthematisierbaren 174 8.4 Auswege aus dem Prinz-von-Homburg-Dilemma 179 Anhang ¿ Theoretische und methodische Überlegungen 183 Zur Konzeption des Buches 183 Empirischer Zugriff 185 Zur Anonymisierung der Empirie 190 Anmerkungen 197 Literatur 231
Alle weichen mal von den Regeln ab. Das gehört zum Leben in Organisationen dazu. Der Grund: Organisationen brauchen Regeln, um berechenbar zu sein, für situative Anpassungen sind aber auch Regelbrüche nötig. Da diese überhaupt erst das Funktionieren von Organisationen aufrechterhalten, spricht man in der Organisationsforschung von »brauchbarer Illegalität«. Dabei ist, so der Soziologie und Organisationsberater Stefan Kühl, nicht jeder Verstoß nützlich: Manchmal zielt er nur auf einen persönlichen Vorteil, nicht selten endet er in einem für die Organisation hochriskanten Skandal. Wie kommt es zu Regelbrüchen? Wann können von ihnen wichtige Impulse ausgehen? Wo liegen Probleme der Regelabweichungen? Wie kann man sich intern über sie austauschen? Anhand einer Vielzahl von konkreten Fällen wirft der Autor einen genauen Blick auf die Nützlichkeiten und Risiken der alltäglichen Regelabweichungen in Organisationen.
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Ministerien, Verwaltungen, Unternehmen und Hochschulen. Zuletzt erschienen von ihm bei Campus »Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücke der flachen Hierarchien«, »Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation« und »Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur«.
Regelverletzungen in Organisationen – Eine Einleitung
Wenn wieder einmal eine Organisation wegen eines Umweltverstoßes, Schmiergeldskandals oder einer Finanzmanipulation in der öffentlichen Kritik steht, lohnt sich ein Blick in das klassische Theaterstück des Dramatikers Heinrich von Kleist über die Befehlsverweigerung des Prinzen Friedrich von Homburg. Kleist, der selbst in seiner Jugend als Leutnant in der preußischen Armee gedient hatte, konfrontiert in diesem Theaterstück seinen Helden mit allen Tücken einer erfolgreichen Regelabweichung. Die Geschichte ist denkbar einfach. Der Prinz von Homburg dient als General der Reiterei in der Armee des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Vor der Schlacht gegen die schwedischen Truppen erteilt der Kurfürst seinen Generälen den Befehl, den Feind nur nach ausdrücklicher Anordnung anzugreifen – jeder solle, »wie immer auch die Schlacht sich wenden mag, vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen« (Kleist 1996, S. 528). Der oberste Befehlshaber der Armee verpflichtet die Organisation und all ihre Mitglieder auf strikte Gefolgschaft und Einhaltung der Befehlswege.
Aber der Prinz von Homburg tut so, als hätte er diesen Befehl nicht gehört – vielleicht hat er ihn auch nicht gehört – und befiehlt seiner Kavallerie trotz der fehlenden Order und trotz der eindrücklichen Warnung seines ersten Offiziers den Angriff. Er fordert von seinen Untergebenen unbedingte Gefolgschaft ein: »Ein Schurke, wer seinem General zur Schlacht nicht folgt!« Und er übernimmt die Verantwortung: »Ich nehm’s auf meine Kappe. Folgt mir, Brüder!« (Kleist 1996, S. 536) Der Prinz entpuppt sich also als Paradebeispiel einer proaktiv agierenden, Risiko eingehenden und Verantwortung übernehmenden transformationalen Führungskraft.
Und die Risikobereitschaft zahlt sich aus. Der Überraschungseffekt gelingt. Durch die mutige Initiative des Prinzen gewinnt die Brandenburg-preußische Armee die Schlacht. Der Erfolg ändert jedoch nichts daran, dass es sich um einen klaren Fall von Befehlsverletzung handelt. Der Kurfürst von Brandenburg ist empört: »Wer immer auch die Reiterei geführt, am Tag der Schlacht … damit ist aufgebrochen, eigenmächtig, … bevor ich Order gab …, der ist des Todes schuldig, das erklär ich.« (Kleist 1996, S. 544) Der Kurfürst lässt den Prinzen verhaften und verhängt das Todesurteil über den Gehorsamsverweigerer.
Sicherlich – in Kleists Drama geht es nicht um die ähnlichen Verhaltensmuster der Vielen, sondern es lebt von der für Theaterstücke üblichen Zuspitzung auf einzelne Personen und ihre Konflikte. Dennoch stecken in dem Stück bereits fast alle Fragen, die sich Organisationen beim Umgang mit Regelabweichung und Gesetzesverstößen stellen. Es liegt ein klarer Regelverstoß vor, aber gibt der Erfolg dem Regelbrecher nicht nachträglich recht? Und wer darf beurteilen, ob der Regelbruch letztlich ein Erfolg gewesen ist? Die Schlacht ist gewonnen, aber ein Großteil der schwedischen Armee konnte fliehen. Ist der Gewinn der Schlacht nicht nur ein Pyrrhussieg, der sich bei der nächsten Schlacht bitter rächen kann? Hätte ein kluges Abwarten vielleicht die Vernichtung des gegnerischen Heeres und damit nicht nur den Sieg in der Schlacht, sondern vielleicht auch im ganzen Krieg bedeutet? Und was treibt den Regelbrecher an? Auf den ersten Blick nur das Wohl der Organisation – aber spielt nicht auch die Suche nach individuellem Ruhm eine Rolle? Hat er die Kosten und Nutzen der Befehlsverweigerung für sich – und auch für das gesamte Herr – rational durchkalkuliert, oder hat er intuitiv gehandelt? Und last, but not least – wie soll die Organisation mit diesem auf den ersten Blick erfolgreichen Regelbruch umgehen? Soll man den Regelverletzer – wie vom Kurfürsten angekündigt – trotz seiner möglicherweise guten Absichten und trotz des Erfolges bestrafen oder soll man ihn als vorbildhaften Organisationsrebellen und Musterbrecher feiern?
Funktionale Regelverletzungen und brauchbare Illegalität
Organisationen müssen, so die Lehre aus Kleists Theaterstück, einerseits die Wirksamkeit des formalen Regelwerks sicherstellen, sind aber andererseits darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder zum Wohle der Organisation immer wieder von Regeln abweichen und Anweisungen ignorieren (Bosetzky 2019, S. 37ff.). Denn formale Regeln sind häufig zu rigide, um für jede Situation angemessen zu sein, und verlangen deswegen von der Organisation die Bereitschaft, Abweichungen zu dulden, durch die aber die Existenz der formalen Ordnung nicht grundlegend in Frage gestellt werden darf.
In der Wissenschaft wird die für die Organisation funktionalen Regelabweichungen als »brauchbare Illegalität« bezeichnet. Mit brauchbarer Illegalität wird dabei nicht nur ein Verhalten bezeichnet, das gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch ein Verhalten, das formale Erwartungen in Organisationen – also die Gesetze der Organisation – verletzt (Luhmann 1964b, S. 304). Es geht also bei brauchbarer Illegalität sowohl um die Missachtung von Arbeitsschutzgesetzen, das Überschreiten staatlich vorgegebener Ruhezeiten bei LKW-Fahrern oder die Bestechung von Kunden zur Erhaltung eines Auftrages als auch um Fälle wie die Nichteinhaltung von vorgeschriebenen Dienstwegen oder der Verstoß gegen interne Verfahrensrichtlinien, durch die zwar formale Erwartungen der Organisation verletzt, aber nicht staatliche Gesetze gebrochen werden. Auffällig ist dabei, wie regelmäßig die Regeln in Organisationen gebrochen werden. Die Regelabweichungen sind so stark in der Organisation verankert, dass Organisationsmitglieder informale Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind zentraler Teil der Kultur von Organisationen.
Bei aller üblichen Skandalisierung von Regelbrüchen und Gesetzesverstößen ist die Einsicht in die Funktionalität der Regelabweichung in Organisationen in der Praxis weit verbreitet. Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als die effektivste Streikform, um eine Organisation lahmzulegen. Wenn alle Regeln und Anweisungen buchstabengetreu ausgeführt werden, wird die Organisation auch bei noch so guter Planung immer schwerfälliger. Die Organisation zerbricht an der rigiden Auslegung ihrer formalen Strukturen. Sie geht an ihrem »Ordnungs- und Verordnungswahn«, ihrer »Regulierungswut« und ihrem »Regelfetischismus« zugrunde (vgl. früh schon Crozier 1963, S. 247ff.).
Wer es nicht glaubt, probiere in einer Art Krisenexperiment aus, über mehrere Tage bis ins Detail nur genau das zu tun, was von der Organisation vorgeschrieben ist. Man würde den Arbeitsprozess weitgehend zum Erliegen bringen. Man würde als »bürokratischer Virtuose«, der nie auch nur eine Regel vergessen könne, als »penetranter Formalist«, der nicht in der Lage sei, auch mal »Fünfe grade sein zu lassen«, oder als »regelbesessener Korinthenkacker«, der nicht wisse, wie eine Organisation wirklich funktioniert, diskreditiert werden. Der Druck von Kollegen und Vorgesetzten würde stetig wachsen, den »Bürokratismus« – so nennt man die strikte Einhaltung der formalen Ordnung – nicht zu übertreiben.
Scheiternde und gelingende brauchbare Illegalität
Die Einsicht in die Funktionalität von punktuellen Regelabweichungen in Organisationen wird durch ein Phänomen erschwert. Über Regelabweichungen wird immer dann öffentlich diskutiert, wenn etwas grundlegend schiefgegangen ist. Die spektakuläre Pleite eines US-amerikanischen Energieunternehmens führt zur Verdammung von Tricks bei der Darstellung der Finanzen und nicht zum Lob für die buchhalterische Kreativität des Unternehmens (siehe z. B. McBarnet 2006). Das Bekanntwerden der Manipulation von Abgaswerten durch Unternehmen eines Automobilkonzerns hat zur Folge, dass die Einhaltung von Gesetzen öffentlich eingefordert wird und blockiert wiederum das Verständnis dafür, dass Verstöße gegen Regeln in Organisationen immer wieder notwendig sind.
Allein der Blick auf diese Beispiele zeigt, wie sehr unsere Perspektive auf Regelabweichungen durch das öffentlich sichtbare Scheitern dieser Organisationen verzerrt wird. Hat sich eine skandalisierende massenmediale Bewertung erst einmal festgesetzt, ist es sehr schwer, komplexer gearbeitete Alternativinterpretationen einzubringen. Zugespitzt ausgedrückt: Die unvermeidlichen massenmedialen Dramatisierungen und Trivialisierungen verbauen eine organisationswissenschaftlich abwägende Prüfung.
Sicherlich ‒ für viele kann ein spektakulär gescheiterter Energiekonzern schnell als Inbegriff einer gescheiterten, kriminellen Unternehmung gelten. Dabei spielt dann keine Rolle mehr, dass die eigenen Haus- und Hofberater das Unternehmen noch wenige Monate vor der Insolvenz euphorisch als Musterbeispiel für nachhaltig profitable Unternehmensentwicklung durch permanente schöpferische Zerstörung preisen konnten. Aufgrund der Manipulation der Abgasmesswerte würde ein Automobilkonzern nicht nur zu Strafzahlungen und Schadensersatzzahlungen in Milliardenhöhe verpflichtet werden, sondern hätte auch gegen die Reputation anzukämpfen, eine »kriminelle Vereinigung« zu sein, die ihre Kunden systematisch betrügt. Schnell würde vergessen werden, wenn das Unternehmen bis kurz vor Bekanntwerden des Abgasskandals in der Wirtschaftspresse nahezu einhellig wegen seiner Ingenieurskünste und seiner hohen Profitabilität als großes Vorbild gepriesen worden wäre. Es leuchtet ein, dass das Bekanntwerden eines Regelbruchs oder Gesetzesverstoßes für eine Organisation finanzielle Konsequenzen haben kann, die dieses Vorgehen im Nachhinein irrational erscheinen lassen (so z. B. Reichert et al. 1996; Baucus und Baucus 1997). Aber die finanzielle Bilanz hätte – das wird häufig übersehen – ganz anders ausgesehen, wenn die Regelbrüche und Gesetzesverstöße nicht bekannt geworden wären.
Häufig hängt es von Zufällen ab, ob Handlungen später als erfolgreich eingeschätzt werden oder nicht. Die Buchhaltungstricks eines Energiekonzerns mögen im Nachhinein als Ursache für den Niedergang des Unternehmens erscheinen. Aber dabei würde man übersehen, dass diese Buchhaltungstricks vermutlich ohne ein Platzen einer Blase an den Finanzmärkten nicht bekannt werden würden und es damit nicht ausgeschlossen wäre, dass das Unternehmen durch eine Monopolstellung im Gas- und Strommarkt am Ende auch »reales Geld« verdient hätte. Die Abgas-Trickserei eines Automobilkonzerns mag aufgrund des Bekanntwerdens als zentraler Grund für die Probleme des Konzerns gelten, dabei würde aber übersehen, dass ohne dieses zufällige Bekanntwerden es dem Unternehmen möglich gewesen wäre, die eigenen ingenieurstechnischen Meisterleistungen im Bereich der Abgasreinigung weiterhin zu preisen, bis andere kostengünstige Lösungen für eine effiziente Abgasreinigung zur Verfügung stehen würden. Schließlich ist das professionelle Management der Schauseite für nicht wenige politische, religiöse und wirtschaftliche Organisationen die Basis ihres Erfolges.
Kontrastierend zu grandios gescheiterten Regelabweichungen müsste man deswegen bei als erfolgreich betrachteten Organisationen durch Detailanalysen recherchieren, inwiefern der Erfolg auch auf Praktiken brauchbarer Illegalität zurückgeführt werden kann. Vermutlich würde man überrascht feststellen, dass bei nicht wenigen dieser Organisationen Manöver im Grenzbereich des eben noch Erlaubten, gezielte kleinere Gesetzesverstöße oder über Jahre geduldete Regelabweichungen zu beobachten sind – bloß dass bei diesen Organisationen diese Vorgehensweise nicht öffentlich skandalisiert wurde und sie deswegen nicht in eine Legitimitätskrise geraten sind.
Entscheidungen in Organisationen finden immer unter Unsicherheit statt und sind deswegen notgedrungen immer riskant. Man hätte ja stets auch anders entscheiden können (siehe dazu Luhmann 1984b und Luhmann 2009). Die Entwicklung eines Großflugzeuges ist mit einem Risiko belastet, weil man nicht wissen kann, ob es sich am Markt als Erfolg oder als Flop erweisen wird. Die Einführung einer neuen Software in einer Verwaltung ist ein Wagnis, weil man keine Sicherheit haben kann, ob sie sich im Vergleich zu einer anderen Software als Effizienzgewinn herausstellen wird oder vielmehr zu weiteren Verkomplizierungen führt.
Zugestanden – ein zentrales Merkmal funktionaler Regelabweichungen ist die Ungewissheit ihrer Kosten (so Luhmann 1964b, S. 314). Aber die Entscheidung in Organisationen, gegen Gesetze zu verstoßen oder Regeln zu missachten, unterscheidet sich in ihrem Risiko nicht grundlegend von anderen Entscheidungen in Organisationen. Ob sich die Ausbildung einer für die Organisation funktionalen Regelabweichung im Nachhinein als Beitrag zu mehr Effizienz und Kundenzufriedenheit oder als verheerender Schritt in eine Katastrophe herausstellt, ist ein typisches organisationales Risiko. Statt aufgrund von öffentlich gemachten Skandalen für die Organisation funktionale Regelabweichungen oder Gesetzesverstöße pauschal zu verurteilen, müssen wir also ein Sensorium dafür entwickeln, dass es sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Fälle brauchbarer Illegalität in Organisationen gibt.
Die Probleme bei der Verengung auf Einzelfälle
Jedes Mal, wenn eine Organisation wegen eines Schmiergeldskandals, eines Umweltschutzverstoßes oder einer Finanzmanipulation in die öffentliche Kritik gerät, läuft das gleiche Spiel ab. Kommentatoren in den Massenmedien empören sich über die Gesetzesverstöße, Politikerinnen und Politiker äußern ihr Unverständnis, wie so dreist gegen geltende Regeln verstoßen werden konnte, und die beschuldigten Organisationen zeigen sich angesichts der in ihrem Namen getroffenen Entscheidungen selbst erschrocken und geloben Besserung. Über Wochen, manchmal Monate, herrscht ein allgemeiner Erregungszustand, bis das Interesse langsam nachlässt und der Fall in Vergessenheit gerät.
Sicherlich – einige Fälle von Gesetzesverstößen und Regelabweichungen bleiben in Erinnerung oder werden sogar Teil eines globalen kollektiven Gedächtnisses. Man denke nur an das Kriegsverbrechen von My Lai, bei dem US-amerikanische Soldaten in Vietnam Hunderte von Zivilisten massakrierten (Jones 2019), den Einbruch in die Büros der Demokraten im Watergate Hotel in Washington, der letztlich zum Rücktritt eines US-amerikanischen Präsidenten führte (Bernstein und Woodward 1974), oder auch die Explosion einer Fabrik von Union Carbide im indischen Bhopal, die Tausende von Todesopfer forderte (Shrivastava 1987). Aber wer erinnert sich dagegen noch an die Bestechung von Staatsbeamten in Dutzenden von Ländern durch den Flugzeugbauer Lockheed (Bolton 1977), die Manipulation von Quiz-Shows im US-amerikanischen Fernsehen der 1950er Jahre (Stone und Yohn 1992), den Betrugsversuch der inzwischen verschwundenen US-amerikanischen Apothekenkette Revco an staatlichen Wohlfahrtsbehörden (Vaughan 1980) oder die finanzielle Unterstützung der Terrororganisation des Islamischen Staates durch das französische Zementunternehmen Lafarge (Belhoste und Nivet 2018)?
Zugegeben ‒ die ausführliche Schilderung eines Einzelfalls befriedigt das Bedürfnis nach »guten Geschichten«, die bekanntlich besonders dann gut sind, wenn sie Schlechtes zum Gegenstand haben. Die Darstellungen in Zeitungen und Büchern über Gesetzesbrüche von Organisationen lesen sich nicht selten wie Krimis, in denen einige aufrechte Kämpfer allen Widerständen zum Trotz die Schandtaten der Bösen aufdecken und bekämpfen. Filme, in denen die Hintergründe eines Skandals rekonstruiert werden, sind spannender als so mancher Thriller. Trotzdem bleibt nicht selten ein unbefriedigendes Gefühl, weil man über die detaillierte Schilderung des Einzelfalls hinaus wenig über die Funktionsweise von Organisationen erfährt. Man wurde gut unterhalten, hat aber nur wenig Anregung zum Nachdenken bekommen.
In diesem Buch interessieren mich deswegen keine Einzelfälle, sondern grundlegende Muster der Regelverletzung in Organisationen. Aber das bedeutet nicht, dass einzelne Vorkommnisse von Regelabweichungen keine Rolle spielen.
»An dem Buch fasziniert, wie Kühl das verschiedenartige Lernen der Akzeptanz und Entstehung der brauchbaren Illegalität in Organisationen seziert. Hier liegt der große Nutzen des Buches. Diese Analysen basieren auf der von Kühl hervorragend beherrschten Verknüpfung von Theorie und Praxis.« Karsten Trebesch, OrganisationsEntwicklung, 15.01.2021

»In kurzweiliger, aber gleichwohl wissenschaftlich fundierter Darstellung leuchtet der Autor die Untiefen und Grauzonen der Illegalität aus, vermittelt die Entstehung, Durchsetzung und Regulierung von Regelabweichungen sowie deren Management. Die Ausführungen eignen sich hervorragend, um die eigene Organisationskultur zu reflektieren, seine Position darin zu klären und weiterzuentwickeln.« Sitftung & Sponsoring, 28.06.2021

»Insgesamt gelingt es Stefan Kühl, bisherige Erkenntnisse zu den Ursachen von Regelverstößen in und von Organisationen geschickt aufzubereiten und systemtheoretisch zu reflektieren.« Sebastian Starystach, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2021) 73: 151–154
Kundenmitteilung
EU-Datenschutzgrundverordnung

Die DSGVO stärkt die Datenschutzrechte europaweit für uns alle. Bei vub haben wir aus diesem Anlass unsere Datenschutzerklärung grundlegend verändert:

  • Wir stellen noch übersichtlicher dar, wie und wofür wir personenbezogene Daten verarbeiten (wenn überhaupt, denn das Verwerten Ihrer persönlichen Daten ist überhaupt nicht unser Geschäft!).
  • Wir informieren in unserer neuen Datenschutzerklärung über die Kundenrechte.
  • Wir haben die Datenschutzerklärung übersichtlicher gestaltet.
  • Ab dem 25. Mai 2018 können Sie in Ihrem Kundenkonto im Menü unter „mein vub - Einstellungen“ den gewünschten Datenschutz selbst einstellen.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte jederzeit an unseren vub-Kundenservice und Ihre bekannten Ansprechpartner unter premiumservice@vub.de.

Bestätigung